Hier sind wir zu Hause!

Der Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V. wurde 2010 auf Initiative von 13 öffentlichen Organisationen sowie mit aktiver Unterstützung der Deutschen Bundeskoordinationsunion der Russischen Landsleute gegründet. Dies ermöglichte den russischsprachigen Organisationen in Deutschland ihre Arbeitsweise neu zu entwickeln. Nach 4 Jahren konnte der Bundesverband 30 weitere russischsprachige Organisationen aus Berlin, Nürnberg, Köln, Dresden, Düsseldorf und aus vielen anderen Städten unter ihr ‚Dach‘ bringen.

Die Arbeitsschwerpunkte des Verbands sind klar definiert: Rechtliche Gleichberechtigung sowie Bildungschancen für die russischsprachige Bevölkerung in Deutschland, unabhängig von ethnischer Herkunft, Religionszugehörigkeit und sozialem Status; Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit für die russischsprachigen Kinder und Jugendlichen auf dem deutschen Bildungs- und Arbeitsmarkt; Erhaltung der Zweisprachigkeit im Sinne des multikulturellen Erbes; Projektentwicklung im Bereich der politischen Bildung; aktive Kooperation mit verschiedenen deutschen Staatseinrichtungen und öffentlichen Organisationen der anderen Diaspora in zahlreichen sozialen Richtungen und Themen.

Statistiken belegen, wie stark sich die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft verändert hat. Laut dem Statistischen Bundesamt haben von den 82 Millionen Einwohnern in Deutschland 16,3 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund und sind demnach also Einwanderer, ein Nachkomme oder ein Kind aus einer bi-nationalen Ehe. Nach vorsichtigen Schätzungen leben heute in Deutschland rund 3 Millionen russischsprachiger Einwanderer, die ihre Heimat in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion für den Erwerb des ständigen Aufenthalts in Deutschland aufgegeben haben. Damit verbunden ist das Einleben in einem neuen Land, das Erlernen einer neuen Sprache, die Aufnahme einer neuen Beschäftigung und das Kennenlernen einer neuen Kultur, um an dem tagtäglichen Geschehen des Landes teilnehmen zu können. Gleichzeitig sollten die kulturellen Traditionen der ursprünglichen Heimat nicht vergessen werden. Statt eines Isolationsfaktors bereichern sie die gesamte multinationale deutsche Gesellschaft. Große Aufmerksamkeit wird heute auf die Probleme der Kinder und Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund gerichtet. Deshalb ist die Gründung des Bundesverbands russischsprachiger Eltern e.V. ein weiteres wichtiges Glied im Rahmen der Integrationspolitik, die sowohl für Deutschland als auch für die neuen Bürger wichtig ist. Die Gründung ist absolut plausibel und politisch notwendig. Diese neue politische Struktur vertritt heute die Interessen einer großen Anzahl an russischsprachigen Bewohnern in Deutschland.

Darüber, wie man die Integration erfolgreich gestalten kann, sowie über die Probleme der öffentlichen Organisationen und die neuen Möglichkeiten, die mit der Entstehung des Bundesverbands russischsprachiger Eltern e.V. in Deutschland verbunden sind, haben wir ein Gespräch mit dem Mitglied des Bundesverbands und der Leiterin eines in Deutschland bekannten Russisch-Deutschen Kulturzentrums in Nürnberg, Irina Fixel, geführt.

 

Das vor 16 Jahren in Nürnberg gegründete Russisch-Deutsche Kulturzentrum ist eines der größten Zentren für die Weiterbildung in Deutschland. Jede Woche besuchen 1000 Menschen 126 Workshops – und somit wurde ein Rekordbesuch von 48000 jährlich erreicht.

  • Irina, womit kann man Ihrer Meinung nach die Entstehung einer neuen politischen Struktur heutzutage begründen? Was bedeutet das für „unsere“ Immigranten?

Der Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V. ist unsere große Hoffnung, damit die deutschen Behörden auf allen Ebenen ihre Aufmerksamkeit auf das positive Potential der russischsprachigen Bewohner in Deutschland richten. Die Stimme einer einzelnen Organisation bedeutet so gut wie gar nichts, während der Verband, als eine Vereinigungsorganisation, ausreichend Kraft hat. Der Begriff der Integration bedeutet heutzutage nicht nur, dass man der deutschen Sprache mächtig ist, die Kultur kennt und eine Beschäftigung hat. Wir möchten uns in Deutschland wie „zu Hause“ fühlen, unsere Erfahrung einbringen, sowie zur Entwicklung dieses Landes anhand unserer Kenntnisse beitragen. Der Verband ist unsere Plattform der Ideen und auch die Gelegenheit, sich dem deutschen Leben mit unserem reichen Potential anzuschließen, damit wir und unsere Kinder geschätzt werden, unabhängig von unserem Akzent. Anstatt uns die Frage zu stellen „Woher kommen sie?“, sollte man uns lieber fragen „Was können Sie bzw. was können Sie beruflich, damit Deutschland davon profitieren kann?“. In Deutschland gibt es mehr als 30 Vereine, die diese politische Struktur nicht umsonst gegründet haben. Das Wichtigste was uns vereint sind Kinder und Eltern. Unser Ziel im Rahmen des Austauschs von Erfahrungen zwischen den Mitgliedern des Bundesverbandes ist nicht nur etwas mitzunehmen, sondern auch etwas Nützliches beizutragen. Einer hat einzigartige Kenntnisse über Statistik und könnte diese teilen, der andere kann gute Finanzprojekte zusammenstellen, während der dritte seine Dienstleistungen als talentierter Designer anbieten kann. Nur so kann unser Erfolg vor Ort aufgebaut werden. Wir können und wollen in Deutschland mit den gleichen Rechten und Pflichten wie die einheimischen Deutschen leben. Für eine erfolgreiche Integration bedeuten ihre kleineren Bestandteile sehr viel. Man muss nicht weit gehen, damit man sich als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft empfindet. Es reicht aus, wenn man sich innerhalb seiner Stadt nützlich machen kann und lernt, wie man zusammen mit seiner Stadt leben kann. Ich, zum Beispiel, lebe seit mehr als 20 Jahren in Nürnberg. Ich liebe diese Stadt und möchte dafür so viel wie möglich machen. Ich bin glücklich, dass unser „Russisches Zentrum“ in Nürnberg sehr bekannt ist. Und für die Bayerischen Journalisten sind wir die primäre Anlaufstelle, wenn sie Fragen in Bezug auf alles „Russische“ haben.

- Stimmt es, dass viele deutsche Organisationen nicht nur die Adresse des „Russischen Zentrums“ in Nürnberg, sondern auch Ihre private Handynummer kennen?

- Ja, die Leute rufen mich jederzeit an, wenn es um die Lösung einiger Probleme der russischsprachigen Bewohner in der Region geht. Einmal habe ich einen Anruf von der Polizei mitten in der Nacht bekommen und musste helfen. Aber unser Zentrum kennen nicht nur die Russen und Deutschen. Ich kann mich noch dran erinnern, wie eine bulgarische Mutter sehr lange unser Zentrum gesucht hatte, um ihren Sohn – den kleinen talentierten Maler - für Malunterricht bei uns anzumelden. Das Russisch-Deutsche Kulturzentrum in Nürnberg besuchen Menschen aus vielen verschiedenen Diaspora: Türken, Araber, Griechen, Rumänen, Bulgaren, Polen, Äthiopier und andere. Wir konzentrieren uns nicht nur auf diejenigen, die russische Wurzeln haben. Bei uns ist jeder willkommen. Für diejenigen, die die russische Sprache lieben, gibt es zahlreiche Projekte. Darunter ist das Projekt „Puschkins Lyceum“: Fünf Stunden der Kommunikation in der Sprache des größten Dichters. In unserem Zentrum gibt es Vorschulkinder aus deutschen Familien. Die Kinder bekommen Unterricht von professionellen Lehrern aus der starken „Sowjetischen Schule“, die von den Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion so geschätzt wird. Die Lehrer bereiten die Schüler im Voraus auf die schwierigen Themen vor, die ihnen im Laufe des Schuljahres unbedingt begegnen werden. Es wird ihnen beigebracht, wie man die Hausaufgaben macht, Aufmerksamkeit entwickelt, Einfallsreichtum erwirbt, und viele weitere Aspekte.

- Im Zentrum sind auf Dauer über 20 Lehrer in 120 Kursen tätig. Erzählen Sie uns bitte über die interessantesten Integrationsprojekte, die im Rahmen der Jugend- und „Elternpolitik“ im Zentrum stattfinden.

- Die Kinder in unserem Zentrum wachsen in zwei Kulturen und zweisprachig auf. Wir feiern „Masleniza“ (wortwörtlich „Butterwoche“ oder Russischer Karneval) genauso wie wir Karneval feiern und nach Weihnachten wird Russisches Silvester nach dem alten Kalender gefeiert. Die Samstagsschule ist ein innovatives Projekt unseres Zentrums. Den Vormittag besuchen die Kinder im Alter von 5 bis 10 Jahre den Klassenunterricht in der Grundschule. Die Vorbereitung der Kinder für eine deutsche Schule findet in der deutschen Sprache statt. Samstags haben wir ebenso Fördergruppen mit Kleinkindern schon ab 1,5 Jahre – der sogenannte Förderkindergarten in der Samstagsschule. So ein Angebot bietet sonst keiner! Die Eltern haben vormittags frei. Ihre Kinder sind in guten Händen und werden geschult. Die Jugendlichen sind von dem Chemie- und Physikunterricht begeistert, da man dort Experimente durchführen kann. Jeden Samstag findet Sport, Musik und Malunterricht statt. In der fünften und letzten Unterrichtsstunde bieten wir Russisch an, und das ist komplett kostenfrei. Am selben Tag werden die Informationsabende für Eltern durchgeführt, in denen die Spezialisten erzählen, welche Impfungen man machen sollte, wie man die Kinder auf die Tests für die Grundschule vorbereiten kann, und sogar, wie man einem hyperaktiven Kind die Konzentrationsfähigkeit beibringt. Es ist wichtig, dass man einen Menschen individuell betreut und die Methode ist dabei auch wichtig. Das gesamte Projekt „Samstagsschule“ richtet sich deshalb gezielt auf eine erfolgreiche Integration von Kindern in die deutsche Gesellschaft.

- Welche Besonderheiten der russischsprachigen Immigrantenfamilien sind Ihnen während der Arbeit des Zentrums begegnet? Und wo liegt das Problem dieser Bevölkerungsgruppe Deutschlands?

- Ein wichtiger Unterschied ist eine andere mentale Einstellung zum Leben, aber auch bezüglich der Kindererziehung. Unsere Eltern meinen, damit das Kind eine nachhaltige Zukunft hat, muss es viel lernen und an sich arbeiten. Die Einstellung der Deutschen ist ein wenig anders: Das Kind „nicht überlasten und nichts von ihm verlangen“, da es selbst seinen Weg finden soll. Einheimische deutsche Eltern können oft nicht begreifen, wie man ihre Tochter oder ihren Sohn am Wochenende um 8 Uhr morgens oder in den Ferien früh wachmachen kann, damit sie lernen oder ihre Hausaufgaben zu Hause machen. Aber das Hauptproblem besteht eben darin, dass manche einheimische Institutionen die Verhaltensbesonderheiten innerhalb der Immigrantenfamilien nicht wahrnehmen. Wie oft hatten wir schon mit den Kindergärten Auseinandersetzungen, nachdem die Erzieherinnen Eltern daran gehindert haben, wenn diese ihre Kinder etwas früher von der Kita oder Schule abholen wollten, weil sie in unser Zentrum der Weiterbildung zum Unterricht mussten. Aber jedes Jahr geht der Trend in eine bessere Richtung. Nach den Jahren der multikulturellen Umwandlung der Gesellschaft haben sich die Einheimischen mittlerweile sowohl an die Leute mit Akzent als auch an die Besonderheiten unserer Mentalität und unseres Verhaltens gewöhnt. Während der politischen Sitzungen mit den Deutschen, weise ich häufig darauf hin, dass der Erfolg unseres Zentrums nicht nur aus der kooperativen Zusammenarbeit unserer Teams besteht. Der Grund, weshalb wir so auf dem Markt nachgefragt sind, sind unter anderem die Mängel des Schulsystems in Deutschland. Es ist kein Zufall, dass die Eltern aus verschiedensten ethnischen Gemeinschaften bei uns in Warteschlangen stehen, um die Anmeldeformulare für unser Zentrum der Weiterbildung für ihre Kinder auszufüllen.

- Sie haben sich vor kurzem für den Stadtrat kandidiert. Heutzutage spricht man viel über die erfolgreiche Integration. Wovon ist diese abhängig aus der Perspektive eines erfahrenen Politikers?

- Während der politischen Sitzungen mit den Einheimischen wiederhole ich immer wieder, dass Integration nur möglich ist, wenn es in beiden Richtungen stattfindet. Wenn die einheimische Bevölkerung sich weigert, die Immigranten als „Gleichgestellte“ zu behandeln, bleibt der Begriff der Integration nur „auf dem Papier“ stehen. Ich bin der Meinung, dass meine Erfahrung bei den Wahlen eines dieser Beispiele ist.

Die CSU, als regierende Partei in Bayern, ist schon offener für Einwanderer geworden. Zum ersten Mal haben wir in unserer Stadt ein Integrationszentrum gegründet (das verschiedene ethnische Diaspora wie die Türkische, Griechische, Kroatische und viele andere vertritt) und da mein Name Vielen bekannt ist, habe ich meine Kandidatur vorgeschlagen. Mir ist es in der Tat gelungen, die gesamte „russische Welt Nürnbergs“ zu vereinen. Was für eine hervorragende Leistung! Ich habe selbst kaum daran geglaubt, dass so was möglich wäre! Die Landsleute haben uns nicht enttäuscht, denn nach unseren Berechnungen haben fast 10 Tausend russischsprachige Wähler für mich ihre Stimme abgegeben. Das war eine echte Belohnung. Aber die Anzahl der Stimmen war für mich nicht ausreichend. Leider haben viele ältere CSU-Wähler die nicht deutschklingenden Namen aus dem Stimmzettel einfach durchgestrichen. Zudem fielen die Wahlen für den Stadtrat mit der Volksabstimmung auf der Krim genau am selben Tag zusammen. In der Presse- und Medienwelt herrschte eine Art antirussische Kampagne und mein Name wurde wegen der „russischen“ Berichterstattung einfach weggestrichen. Ich denke, dass im Herzen der deutschen Gesellschaft noch kein richtiger mentaler Wandel stattgefunden hat. Wir müssen noch seriöser in dieser Richtung arbeiten.

- Worauf genau sollten die Politiker des Bundestags ihre Aufmerksamkeit richten, wenn man von der russischsprachigen Diaspora in Deutschland spricht?

- Auf unser Potenzial! Ich wünsche mir, dass man die umfangsreiche Erfahrung der russischen Immigranten im Kultur-, Bildungs- und Erziehungsbereich im Endeffekt auf allen Regierungsebenen – von der regionalen bis zur Landesregierung – bemerken wird. Wir sind bereit, Deutschland zu helfen und wollen ein Teil des Landes werden. Die deutschen Politiker können dieses Potenzial gemeinsam mit unseren Spezialisten studieren. Für eine stabile Zukunft ist es für ein multikulturelles, europäisches Land wie Deutschland sehr bedeutsam auf die Stimmen der Immigranten zu hören.

- Wie verstehen Sie persönlich den Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ als Bestandteil der Integration?

In diesem Fall möchte ich ein witziges Beispiel anführen. Wenn an einem Wettbewerb ein Elefant und ein Affe teilnehmen, dann kann man nicht verlangen, dass jeder von ihnen das gleiche Ergebnis erzielt. Der Affe kann gut hüpfen, der große und starke Elefant kann dagegen schwere Gewichte hochheben. Es ist deshalb unmöglich, den Elefanten zu zwingen, von Palme zur Palme zu springen und den Affen die schweren Gewichte schleppen zu lassen. Dennoch ist jeder von ihnen gut in dem was er macht. Man sollte jedem Immigranten die gleiche Chance geben, seine Fähigkeiten und Talente in dem Bereich zu entfalten, wo er realistisch stark und professionell sein kann. Man sollte unseren Kindern ermöglichen, ihren Platz in der multikulturellen europäischen Gesellschaft zu finden. Man sollte sich integrieren, ohne seine Individualität zu verlieren und damit die Immigranten sich in dem Land, auf das sie so viel Hoffnung gesetzt haben, wohl fühlen. Der Bundesverband russischsprachiger Eltern in Deutschland macht alles Mögliche dafür.

Das Gespräch wurde von Jana Franz geführt.

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