Interview mit dem Referenten des Projektes „Familie und Suchtprävention“ Michail Dubrovskij
Michail Dubrovskij: "Jede Krankheit ist leichter zu verhindern als zu behandeln"
Unser Dossier: Michail Dubrovskij - der Projektbildungsreferent des BVRE e.V. "Familie und Suchtprävention". Er kam Anfang 1993 im Alter von 45 Jahren nach Deutschland. Sein Beruf ist Bauingenieur. Seit 17 Jahren hilft Michail russischsprachigen Familien, die sich mit dem Thema Drogensucht beschäftigen.
M.D.: In Deutschland braucht man keine spezielle Ausbildung, um mit den Angehörigen der Suchtabhängigen zu arbeiten. Dies ähnelt dem Kampf um Frieden oder Naturschutz: Ein Mensch führt so eine Art Tätigkeit aus, wenn er versteht, dass er etwas Gutes tut, eine innere Motivation hat, an seine eigene Kraft glaubt, und bereit ist, Energie, Emotionen, und Zeit dafür zu widmen. Für mich ist die Zusammenarbeit mit russischsprachigen Familien, die in gewissem Maße mit dem Konsum von Substanzen, die zur Abhängigkeit führen, oder anderen potenziellen Quellen dieses schädlichen Phänomens konfrontiert wurden, zu solch einer Tätigkeit geworden.
Seit vielen Jahren bemühe ich mich darum, Gleichgesinnte in diesem Bereich zu finden, die die Gelegenheit nutzen, aus meiner Erfahrung zu lernen. Gleichgesinnte, die den Fachleuten, die selbst mit den Abhängigen arbeiten, zuhören. Es ist sehr wichtig, diesen Arbeitsbereich zu erweitern und dadurch die Unterstützung der betroffenen Familien in verschiedenen Regionen des Landes leichter zugänglich zu machen.
Grundsätzlich kann jeder Mensch während einer Drogenberatung Antworten auf alle ihn interessierenden Fragen erhalten, mit Ausnahme vertraulicher Informationen, die den Abhängigen persönlich betreffen. Ich erinnere Sie daran, dass die Weitergabe von Informationen an Dritte in Deutschland verboten ist. Zu solchen Dritten gehören auch Verwandte. Sie sollten sich, ob sie es wollen oder nicht, mit diesem Gesetz abfinden, denn es schützt die Interessen der abhängigen Person.
Außerdem sind unsere Leute manchmal mit der Tatsache unzufrieden, die Berater würden mit ihnen nicht so viel Zeit verbringen, wie sie gern möchten, so dass sie oft enttäuscht, irritiert und sogar einfach verbittert nach Hause gehen. Sie denken überhaupt nicht nach, dass der Berater seine Arbeit gemäß der an ihn gestellten Anforderungen ausführt und seine Zeit in erster Linie den Abhängigen widmet.
T.H.: Was hat Sie, den Bauingenieur, dazu gebracht, dieses Thema anzugehen und Familien mit abhängigen Menschen zu helfen?
M.D .: Ich sage Ihnen offen, dass meine eigene Familie in einer solchen Situation war. Als das passierte, arbeitete ich freiwillig bei einer "russischen" Organisation, wo die Gespräche über Drogen unter den Besuchern – die sonst geflüstert wurden - ein brennendes Thema waren. Manchmal hat man vorsichtig etwas beim Personal gefragt, aber niemand hat uns (und manchmal natürlich sich selbst) gegenüber eingestanden, dass es sich bei diesem Problem um ihn oder sie persönlich handelt und stattdessen mehr auf Bekannte, Nachbarn oder Freunde verwiesen.
In solchen Situationen erkannte ich in ihnen mich selbst wieder, denn vor ein paar Jahren war ich selbst hilflos, als ich auf der Suche nach wenigstens irgendwelchen Informationen war. Ich begab mich auf diesen Weg. Ich erlebte die gleichen Ängste, machte die gleichen Fehler, gab mir Mühe, die Situation in der Familie geheim zu halten und versuchte, dem Berater etwas Konkretes über meine Tochter zu "entlocken" ... Ich verstand damals auch nicht, warum der Berater mir nichts sagte, denn der Vater ist ja keine "dritte Person", sondern im Gegenteil, die erste! Dann stürzte ich mich plötzlich irgendwie spontan in diesen Bereich, ohne nachzudenken, als ob etwas in meinem Inneren geändert wurde. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich in diesem Moment gedacht habe, den anderen zu helfen. Ich wollte wahrscheinlich mich selbst retten.
T.H.: Sehen Sie die Früchte Ihrer Arbeit? Ist es nicht mühselig, wenn Sie versuchen zu helfen, zu beraten, zu kämpfen, aber ohne Ergebnis?
M.D.: Nein, das würde ich nicht so sagen. Ich gebe dem Menschen Ratschläge, wie man sich gegenüber den Abhängigen verhalten soll, wie man Beziehungen mit ihnen umstrukturieren und regulieren kann, damit sich nicht jahrelang das Gleichewiederholt. Aber nicht alle folgen immer diesem Rat. Der eine kann nicht, der andere will nicht, der dritte streitet mit mir - die Ergebnisse sind also verschieden.
Aber selbst im erfolgreichsten Fall sollte man nicht denken, dass ich jemanden aus dem Strudel gezogen habe - schließlich gibt es viele Spezialisten, die sich mit Abhängigen beschäftigen! Und sehr viel muss der Betroffene auch selbst tun. Daher ist der Erfolg das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen.
Es gibt allerdings etwas, was man Feedback nennt: Ich sehe und höre, wie die Schritte, die die Angehörigen unternommen haben, die Situation beeinflussen. Meistens teilen die Abhängigen Ihre Probleme nicht nur mit Eltern, Ehemann oder Ehefrau, sondern auch mit Oma, Onkel, Schwester oder Freund – also mit jedem nicht gleichgültigen Menschen, der dem Betroffenen wirklich helfen möchte. Wenn man die unendlichen Probleme des Abhängigen löst und ihn angeblich „rettet“, helfen dem Betroffenen alle in seiner Umgebung trotz Drogen- und Alkoholkonsum weiter zu leben, auch wenn sie nicht davon überzeugt sind. Deshalb ist es wichtig, dass die Zusammenarbeit mit den Angehörigen nicht nur auf eine Person gerichtet ist, sondern auf die ganze Familie, auf die Menschen aus seinem engsten Kreis.
Schon seit langer Zeit finden in Berlin verschiedene Treffen von zwei Selbsthilfegruppen für Angehörige und Verwandte russischstämmiger Drogenabhängiger statt. Manche Teilnehmer besuchen diese Treffen seit der Gründung. Es gab immer wieder Zweifel an der Wirksamkeit solcher Gruppen. Es gibt keine definitive Antwort. Es stimmt, dass es aus verschiedenen Gründen nicht immer möglich ist, die Krankheit zu bewältigen.
Auf der anderen Seite (für mich ist es ein wichtiger Aspekt, der oft übersehen wird) ist der Betroffene am Leben, hat von seinen Verwandten alle notwendigen Informationen, Unterstützung, die richtigen Impulse erhalten, die Verantwortung für seinen Zustand selbst übernommen und führt mehr oder weniger ein normales Leben. Das bedeutet, man hat ein Kompromiss gefunden, und es gibt positive Veränderungen: der Zustand des Abhängigen hat sich stabilisiert, der Betroffene ist in der Lage, seine Sucht zu steuern, konsumiert nicht mehr verrückte Mengen, stiehlt nicht, ist vorsichtiger und sorgfältiger geworden, belastet nicht die Angehörigen und gibt ihnen die Möglichkeit, Ihr eigenes Leben zu leben und nicht seins.
Das Hauptziel ist natürlich, die Abhängigkeit zu besiegen. Es gibt viele Fälle davon, aber es wäre noch viel mehr möglich, wenn die Angehörigen mit sich selbst und ihren Instinkten zurechtkommen könnten. Wenn ich mich nicht irre, sind das die Worte von Winston Churchill: "Ich bin verantwortlich dafür, was ich sage, aber nicht verantwortlich dafür, was Sie hören" ... Übrigens ist den Angehörigen, so die Expertenmeinung, schwieriger zu helfen als den Abhängigen selbst.
T.H.: Im August wurde das Projekt "Familie und Suchtprävention" für die russischsprachigen Einwohner Deutschlands gestartet, das vom Bundesverband russischsprachiger Eltern Deutschlands durchgeführt wird und vom Bundesministerium für Gesundheit finanziert wird. Wird dieses Projekt, Ihrer Meinung nach, der Zielgruppe helfen? Ist das ein guter Ausgangspunkt, um das Bewusstsein der Zielgruppe im Bereich "Drogen und Sucht" deutlich zu verbessern?
M.D.: Sicherlich! Das wurde ja auch tatsächlich konzipiert, um diese Ziele zu erreichen. Es ist bekannt: Jede Krankheit ist leichter zu verhindern als zu behandeln! Daher wird der Großteil des Projekts der Prävention gewidmet. Wir sind wirklich sehr daran interessiert, dass zu uns Menschen kommen, die von dem bestehenden Problem noch nicht betroffen sind. Wir wollen mit ihnen alles gemeinsam machen, damit ihre Familien nicht mit dem Problem in Kontakt kommen.
Zu allen Zeiten wird ein Kind nicht nur von der Familie, sondern auch von der Gesellschaft, in der es aufwächst, erzogen. Jetzt hat diese Gesellschaft Fortschritte gemacht: außer Sport, Freunde, Fernsehen und andere Hobbies gibt es jetzt Internet. Das Internet - mit seinen fast grenzenlosen Möglichkeiten, Information, Wissen, Unterhaltung und Kommunikationsfreude- bereitet ebenso viele Sorgen und grenzenlose Gräuel. Der schnelle Zeitfluss drängt die moderne Jugend dazu, dass sie so schnell wie möglich alles erleben, ausprobieren und fühlen.
Unser Projekt trägt einen Informationscharakter. Ebenso ist jedoch wichtig, wie eine Person mit dem erworbenen Wissen umgehen wird, ob er oder sie vorsichtig sein wird. Und das hängt nur von der jeweiligen Person selbst ab.
Т.H.: Ihre Wünsche für das Projekt.
M.D.: Dass es verlängert wird! Wir haben zwar ein interessantes Projekt konzipiert, aber in so einer kurzen Zeit ist es unmöglich, viel zu schaffen. Wir haben erst einige Wochen vor dem Projektstart erfahren, dass der Antrag für das Projekt vom Ministerium genehmigt wurde. In kurzer Zeit war es notwendig, motivierte Teilnehmer, ein Hotel mit einem Raum für die Durchführung von Trainingsseminaren zu finden, sowie Referenten, die unsere Zielgruppe kennen, einzuladen.
Jetzt führen unsere Multiplikatoren die Informationsveranstaltungen vor Ort perfekt durch. Leider fand ihre Vorbereitung auch in sehr kurzer Zeit statt, und Ankündigungen von bevorstehenden Treffen erschienen fast erst am Vortag. Ich bin mir sicher, dass die Anzahl der Anwesenden viel größer gewesen wäre, wenn sie von unseren Treffen drei oder vier Wochen im Voraus erfahren hätten.
T.H.: Aber die Ergebnisse sind schon zu sehen.
Natürlich, Tanya, das ist nicht zu bezweifeln. Zu den Veranstaltungen kommen genügend Gäste. Das Wichtigste ist, dass für die Meisten von ihnen die Inhalte unserer Gespräche und die vorbereiteten Informationsmaterialien (Prospekte, Flyer, Broschüren) hilfreich waren! Sie haben selbst Ihre Reaktion und aufrichtiges Interesse live erlebt und gesehen, wie Menschen mit Fragen gekommen sind, und mit der Bitte, solche Gespräche für sie nochmal zu organisieren.
Das konnten wir natürlich nicht versprechen. Das Projekt wurde zunächst für sechs Monate genehmigt. Wir arbeiten intensiv und die erste Phase des Projekts verläuft, meiner Meinung nach, ziemlich lebhaft und erfolgreich.
Nachfolgende Sitzungen sind davon abhängig, welche Zukunft das Projekt und seine Teilnehmer haben werden, sowie welche Aussichten für seine Entwicklung uns erwarten. Wenn das so passiert, wie wir es gerne hätten, dann werden in jeder Stadt zwei weitere dieser Treffen stattfinden. Dann können wir die Vorbereitung im Voraus starten und die Durchführung nicht für 2, sondern für 3 oder 4 Stunden planen (die Zeit war nicht genug, weil die Sitzungen viel länger dauerten). Bei jedem Treffen war die persönliche Kommunikation ein wichtiger Punkt. Die Menschen konnten ihre persönlichen Fragen in Bezug auf ihre spezifische Situation und ihre Familien den Referenten stellen.
Von Tatyana Hekker
Übersetzt von Alevtina Altenhof