Politische Debatten in russischer Sprache: erste Dresdner Erfahrung

Der Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V. in Kooperation mit Integra Plus e.V. hat im Rahmen der Dialogplattform BVRE die erste politische Debatte in russischer Sprache in Dresden durchgeführt. Die gegenseitigen Positionen wurden vertreten einerseits vom Stadtrat und Geschäftsführer der GRÜNEN Fraktion der Stadt Ulm, Michael Joukov, andererseits durch Künstler, Kurator im Bereich der modernen Kunst, Vasiliy Melnichenko.

Das Thema der Diskussion war die Möglichkeit des Familiennachzugs für subsidiär geschützte Flüchtlinge. Michael Joukov begrüßte eine solche Rechtsgewährung, wohingegen Wassili Melnichenko dies kategorisch ablehnte.

Nach Meinung der Expertengruppe war Herr Joukov in seinen Ausführungen überzeugender, während die große Mehrheit der anwesenden Zuschauer teilte die Position von Vasiliy Melnichenko.

Im Frühjahr 2018 soll der Bundestag entscheiden, ob das Moratorium auf Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz verlängert wird. Diese Frage wurde zu einem der schwierigsten Verhandlungspunkte bei der Bildung einer neuen Regierungskoalition.

Die Migrantenfrage bestimmt auch das Tagesgeschäft auf der Ebene der Landesregierungen. So sprach sich neulich auch der vor kurzem gewählte Ministerpräsident des Freistaates Sachsen Michael Kretschmer (CDU) gegen den Familiennachzug und für rasche Abschiebung der ausreisepflichtigen Flüchtlinge. Dies geschah nachdem die sächsischen Wähler bei der Bundestagswahl ein klares Zeichen dafür gegeben haben, dass sie mit der aktuellen Flüchtlingspolitik nicht zufrieden sind.

Den Angaben von Michael Joukov nach, leben in Deutschland zurzeit 470 000 Flüchtlinge mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung. Etwa 20 % von ihnen leben hier mit ihren vollständigen Familien. Ungefähr 400 000 befinden sich in Ungewissheit, da sie ihre nahen Verwandten in den Konfliktgebieten zurücklassen mussten. „Ich weiß, dass es wegen der Anzahl neuer Migranten, welche der hier schon befindlichen Verwandtschaft folgen könnte, eine panische Stimmung existiert. Seriöse Forschungsinstitute nennen eine Zahl von 200.000. Wenn dies die Gesellschaft beunruhigt, könnte man den Zuzug durch eine jährliche Quote begrenzen. Jedoch denke ich nicht, dass sich in der Praxis das Jahr 2015 wiederholt. Denn der Familiennachzug ist nicht so einfach, wie es in der Theorie erscheint.“ - denkt Michael Joukov.

Sein Gegenüber, Vasiliy Melnichenko, hebt hervor, dass er nicht gegen die humanitäre Idee einer Zusammenführung von dem durch soziale Katastrophen getrennte Familien an sich ist. Jedoch sieht er dabei eine Art Bevorzugungstendenz innerhalb der europäischen Politik bei der Anerkennung der Folgen verschiedener Konflikte. „Warum ist Deutschland bereit Flüchtlinge aus dem Nahen Osten aufzunehmen, aber den Bürgern der Ukraine, wo ein Krieg im Gang ist, eine Ablehnung zu erteilen?“ - stellt er die Frage.

 

In der angespannten Stille des Saals, versuchten die Teilnehmer des Disputs ein Argumentationssystem aufzubauen. Für jeden von ihnen wurde ein Reglement geschaffen - die Hauptredezeit je 3 Minuten, danach die Antworten auf die Fragen des Gegenübers und, im Anschluss, die Fragen aus dem Saal und der Expertengruppe. Selbstverständlich ist es nicht immer sehr einfach, seine Gedanken so zu fokussieren, um am Ende das ein oder andere Argument präzise zu formulieren.

Die Bewertungen zu den Auftritten beider Opponenten vielen sehr gespalten aus: während die Expertengruppe die Position von Michael Joukov überzeugender fand, konnte man die Stimmung des Saals schon während der Debatten vorausahnen - in deutlicher Überzahl stimmten die Zuschauer für Vasiliy Melnichenko.

Die Situation als Impfung?

Einige Worte darüber, was uns als Thema der Diskussion diente. Im Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise in Europa begann, musste die deutsche Regierung notgedrungen Bedingungen für die Massenaufnahme von Flüchtlingen schaffen. Um zu vermeiden, dass hunderttausenden Menschen eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, wurde die Entscheidung getroffen Ihnen subsidiären Schutz zu gewähren - das heißt, Ihnen zeitlich befristeten Asylaufenthalt zu ermöglichen. Gleichzeitig wurde beschlossen für die nächsten zwei Jahre das Recht auf Familiennachzug einzufrieren, d.h. die Regierung lehnte es ab, Ehepartner oder minderjährige Kinder nach Deutschland rein zu lassen.

Michael Joukov findet, dass man in allen Bereichen der staatlichen Politik „vom vernünftigen, anstatt vom impulsiven Lösungsweg ausgehen sollte“. Seiner Meinung nach wird das Flüchtlingsthema in den vergangenen zwei Jahren mit einem „hysterischen Druck“ diskutiert.
Die Expertin Natalia Rösler (Club Dialog e.V., Berlin) findet, dass zur seiner Zeit, bei der Massenaufnahme der Flüchtlingen große Fehler gemacht worden sind. Und um heute die Wiederholung solcher zu verhindern, sollte man mit Bedacht an die Lösung des Problems des Familiennachzugs herangehen. Die Expertin griff auch auf die Meinung des berühmten Kriminologen Christian Pfeiffers zurück. Seiner Meinung nach, sind einsame junge Männer, welchen die familiäre Bindung fehlt bzw. genommen wurde, anfälliger für den Einfluss des kriminellen Milieus.

„Vielleicht wäre es doch besser den Männern die Möglichkeit zur Zusammenführung mit ihren Familien zu geben? Sie sind schon hier und werden auch nirgendwo mehr fahren. Wenn wir alles so belassen wie es ist, werden wir Radikale großziehen“ - erläutert Natalia Rösler.
Das Thema, über welches man beim Disput in Dresden diskutierte, war wahrlich emotional, aktuell und heiß, und bei dem es nicht die ‚richtige’ Lösung gibt. Trotz allem hat es die Diskussionsteilnehmer nicht daran gehindert im Rahmen des gegenseitigen Respekts zu bleiben.
Man muss den Organisatoren der Veranstaltung, der Leiterin der INTEGRA Plus e.V., Inga Bernhardt und dem Journalisten Dennis Lupekin, welche ihr eigenes Model der Durchführung eines solchen Treffens entwickelten, danken.

„Mithilfe des Bundesverbands russischsprachiger Eltern haben wir in Dresden eine Diskussionsplattform neuen Formats geschaffen. Wir wollen nicht dass die gesellschaftliche Expertise in Form einer Lektion stattfindet, sondern uns ist das Feedback wichtig“,- bemerkt Inga Berenhardt. Ihren Worten nach, haben sich die Organisatoren dazu entschlossen aktuelle Themen unserer Tage auf die Tagesordnung zu setzen: „Das Spektrum der diskutierten Fragen wird sehr weitreichend sein, d.h. vom Einsatz der Atom Energie bis hin zur Bewahrung der russischen Sprache in den nächsten Generationen der Repatriieren aus der ehemaligen Sowjetunion.“

Inga Berenhardt ist sich sicher, dass die Information, welche sich in Form eines lebendigen Politduells verbreitet, besser von den Zuschauern aufgenommen wird. „Außerdem wird der Wettbewerbscharakter und der Wille die Zuschauer und die Experten zu überzeugen, die Kontrahenten dazu stimulieren ihre Argumente gründlicher zu wählen und diese kurz und verständlich zu vermitteln. Unsere Diskussionsplattform ist auch dazu gedacht russischsprachige politisch engagierte Akteure auf öffentliche Auftritte vorzubereiten. Und natürlich wollen wir Themen und Meinungen an die Oberfläche der öffentlichen Diskussion bringen, die tatsächlich aktuell sind, jedoch nicht in die herauskristallisierte und konservative Welt der Berufspolitik eindringen“.

Das Dresdner Know-how


Zur Dynamik des Handlungsablaufs haben die Organisatoren feste Regeln etabliert. Wären nicht diese Beschränkungen - könnte man unendlich über dieses Thema sprechen. „Wenn die Zeit rar ist - so mobilisiert sich die Person und drückt den Kerngedanken präziser aus.“, - findet Denis Lupekin.

„Sollte dieses Format die anderen interessieren, so sind wir gerne bereit den anderen öffentlichen Organisationen, welche an diesem Projekt teilnehmen, zu helfen“‘- fügte Inga Berenhardt hinzu.


Vorstandsmitglied des Bundesverbandes russischsprachiger Eltern, Geschäftsführer der Organisation PHOENIX-Köln e.V., Victor Ostrovsky, erläutert, dass das Projekt Dialogplattform keinesfalls aus dem Nichts entstand: „wir leben in Deutschland nicht das erste Jahrzehnt und wurden hier alle als eine absolut nicht problematische und integrierbare Gruppe angesehen, bis zu dem Moment, als in der Welt gravierende geopolitische Verschiebungen stattfanden. Es hat sich herausgestellt, dass die russischsprachige Community politisiert ist, und angefangen hat eine kollektive Anfrage an den Staat zu formulieren. Wir haben gesehen, dass es ein bedarf nach öffentlichen Diskussionsplattformen gibt, es jedoch keine von diesen für eine tatsächliche Durchführung existiert. Der Bundesverband russischsprachiger Eltern hat sich zur Aufgabe genommen diese Lücke zu füllen. Es ist die Zeit gekommen aus dem Schatten zu treten und zu sagen, wer wir wirklich sind. Genau aus diesem Grund sind wir zu der Idee gekommen eine Dialogplattform zu schaffen. Sie ist dazu gedacht in ganz Deutschland zu funktionieren. Wie es uns erscheint, haben wir bei der Realisierung des Projekts den richtigen Ton gefunden. Unser Slogan lautet: ‚Durch die Teilhabe eigene Zukunft gestalten‘. Damit versuchen wir dem russischsprachigen Auditorium zu vermitteln, dass man in Deutschland denjenigen Aufmerksamkeit schenkt, die von sich reden lassen. Wir sind sehr zufrieden, dass für die Diskussion kontroverse Themen und Formate mit Konkurrenz- Charakter, wie in Dresden, ausgesucht werden. Bei einer offenen Anspannung der Diskussion, formieren wir eine Kultur des politischen Dialogs.“

Victor Ostrovsky nennt das Projekt ‚einen exotischen Vogel, welches seinen Weg von ganz Unten begann‘. Seiner Meinung nach haben Diskussionsplattformen eine logische Perspektive:
„ mit der Zeit wandelt sich die Teilnahme an politischen Debatten in eine aktive Teilnahme an der deutschen Politik, d.h. die russischsprachige Community bekommt ihre Vertreter in staatlichen Einrichtungen und auf der Kommunalen-, Landes- und Bundes- Selbstverwaltungsebene. Dies ist eine ganze Evolution. Wir haben von null angefangen und unser Projekt nimmt immer mehr an Kraft und Umfang zu. Wir stellen uns die Aufgabe, in die Diskussionen diejenigen Schichten einzubeziehen, welche zurzeit nirgendwo teilnehmen, d.h. dass sie folglich auch nirgendwo Initiative ergreifen können. Deshalb haben wir auch russisch als Diskussionssprache gewählt. Nicht weil wir gegen Deutsch sind oder weil unsere Leute diese Sprache nicht sprechen würden. Sondern weil wir so jegliche Barrieren für die Diskussion beseitigen. Deutschsprachige Politiker, die an den Diskussionsplattformen teilnehmen, bekommen eine Synchronübersetzung. Unsere Aufgabe ist es die Diskussion so einzurichten, dass alle Seiten sich gegenseitig verstehen und die Sprache nicht zu einem Faktor wird, welche eine politische Diskussion ausschließt.“

Herr Ostrovsky findet, dass der Bundesverband russischsprachiger Eltern, ein ‚absoluter Pionier’ auf diesem Weg ist. Seiner Meinung nach, richten sich die Organisatoren der Plattform nach der berühmten Aussage von Sokrates: „ich weiß, dass ich nichts weiß“.
„Deshalb probieren wir in verschiedenen Städten auch dementsprechend verschiedene Formate aus. Durch die Palette an Erfahrungen, hoffen wir ein Angebot zu schaffen, welches am besten für unsere Zielauditorium sein wird“.

Meinungen

Michael Joukov, Ulm.

Ist vor 24 Jahren von St. Petersburg nach Deutschland gezogen. „Ich bin zufällig in die Politik gekommen, geblieben bin ich aber absichtlich. Denn es ist wichtig - Einfluss zu nehmen auf die Gegenwart und die Zukunft. Ich habe öfters die Chance an solchen Disputen teilzunehmen. Ich wusste, dass heute eine solche Stimmung im Saal herrschen wird (für begrenzende Maßnahmen der Migration): Sachsen ist nicht Hamburg, dort würde man eine solche Diskussion ganz anders führen. Meiner Meinung nach ist es sogar logisch, dass man sich vor Flüchtlingen dort fürchtet, wo es die wenigsten gibt. Die Organisation der Veranstaltung war auf der Höhe. Was mein gegenüber angeht, so bin ich mir sicher, dass er daran glaubt was er sagt. Andererseits haben wir über das konkrete Thema der Familienzusammenführung diskutiert und nicht die Islamisierung an sich. Man würde sich für die Zukunft wünschen, dass auch wenn die Opponenten nicht einer Meinung sind, dass sie trotzdem bei einem Kernthema bleiben“.


Vasiliy Melnichenko, Berlin.

Ist vor 2,5 Jahren von Sibirien nach Deutschland gezogen. „Mein altes Leben war gefüllt von solchen Ereignissen. Ich war erfreut wieder an einer politischen Debatte des Dresdner Clubs teilgenommen zu haben. Meiner Meinung nach war das Format zu sehr von Regeln geprägt - zu stressig für mich. Ich finde, dass man in die vorgegebenen 3 Minuten der Hauptredezeit keine eindeutige Argumentationsstruktur aufbauen kann. Für mich war es eine kleine Enttäuschung, dass ich von meinem Gegenüber keine neue Information erhalten habe, die mich sagen lassen würde: „Michail, du hast nicht recht“. Solche Diskussionen bedürfen einer Fortsetzung. Mein Wunsch an die Organisatoren - außerhalb des Saals hinaustreten, mehr Menschen in solche Dispute involvieren“.


Pius Dosch, Dresden. Teil der Expertengruppe. Chemiker.

Mir imponiert, dass russischsprachige Menschen angefangen haben ihre Meinung zu sagen. Heute ist es der wichtigste positive Effekt für mich. Wir stehen am Anfang des Prozesses. Diese Veranstaltung ist es wert, dass möglichst viele Menschen von ihr erfahren, um im Endeffekt selbst zum Teilnehmer zu werden. Mit Interesse habe ich die Argumente beider Parteien gehört. Es war sehr professionell und ohne jegliche Angriffe auf persönlicher Ebene. Und die Teilnehmer im Saal konnten vom Gesagten die ‚goldene Mitte‘ wählen“.

Lydia Pitsch, Dresden. Dr. Phil.

Ich finde, dass Dresden solche Diskussionen schon lange braucht. Wir müssen die russischsprachige Bevölkerung motivieren, damit diese sich in das politische Leben Deutschlands einschaltet, aktuelle Themen bespricht, Meinungen austauscht und Vorschläge einbringt. Denn die Wahrheit entsteht nur in Diskussionen. Und man muss die Leute dazu motivieren zu den Sprechstunden der Politiker zu gehen. Fragen Sie diese Leute, wer und wann war bei den Sprechstunden der Abgeordneten? Ich gebe Ihnen eine Garantie, niemand. Genau deswegen bin ich heute hierhergekommen. Ich danke den Organisatoren für dieses Treffen. Die einzige Bemerkung meinerseits: mit Politikern sollten Politiker in den Webwettbewerb treten, da sie über die gleichen Kompetenzfähigkeiten verfügen. Das beste Resultat eines solchen Wirkens des politischen Clubs wird sein, dass die Teilnehmer im Nachhinein in die Politik gehen“.


Tatyana Hecker

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